2. Kapitel

Geborgenheit

Solange Anna nicht zur Schule ging, war sie ein glückliches Kind. Ein wenig zurückgezogen, beinahe unbemerkt von den älteren Geschwistern. Dem Kindergarten konnte sie entkommen, sich weinend an die Mutter klammernd, viele Tag lang.

Zufrieden hockte sie dann daheim, in der großen Spielzeugkiste.

Da gab es Holzbausteine, Bilderbücher und eine Puppe im hellblauen Kleid, die am Vormittag ihr gehörte. Eigentlich gehörte sie ihrer älteren Schwester, aber die war in der Schule. In dieser Zeit tat sie so, als sei es ihre.

An diesen Vormittagen tat sie auch so, als sei sie ein Einzelkind ohne Brüder und Schwestern. Ihre Mutter gehörte nur ihr. Niemand störte diese stille Zweisamkeit. Sie hörte ihre Mutter an der Nähmaschine sitzen, sie liebte das Geräusch der Nähmaschine und sie liebte den Anblick ihrer Mutter beim Nähen. Manchmal schüttete sie die vielen Stecknadeln auf einen Holzsessel . Dann nahm sie den Hufeisförmigen Magneten und fuhr mit ihm auf der Unterseite der

Sitzfläche hin und her, im Kreis herum. Der Tanz der Stecknadeln gefiel ihr.

Anna war glücklich und hatte noch keine Fragen.

 

Anna war ein Kind, das selten Fragen stellte.

Wenn sie etwas nicht verstand, dann dachte sie nach.

Oder sie holte sich Antworten auf nicht gestellte Fragen, indem sie zuhörte. So fand sie heraus, dass es nicht auf der ganzen Welt, wie sie damals dachte, gleichzeitig Tag und Nacht ist. Auch dachte sie, wenn es bei ihr regnet, regnet es auf der ganzen Welt. Dass dies nicht so ist, erfuhr sie, als die "Wiener" kamen. Sie sagten einmal:

"Bei euch ist ja schön, in Wien regnet es".

Die Wiener, das war Annas älteste Schwester mit ihrem Mann und einem pausbäckicken Baby. Sie kamen manchmal über´s Wochenende. Anna liebte es wenn sie da waren, sie liebte ihre Schwester, die immer eine kleine Überraschung für sie hatte und sie liebte das Baby.

Sie war stolz, wenn sie beim gemeinsamen Spaziergang den Kinderwagen schieben durfte.

Anna fragte auch nicht, als ihr bewusst wurde, dass bei ihnen daheim nicht alles so war wie in anderen Familien.

Als die Schulzeit begann, merkte sie, dass andere Kinder Mutter und Vater hatten. Sie hatten nur eine Mutter.

Dunkel erinnerte sie sich, dass das nicht immer so war, aber warum jetzt kein Vater mehr da war, das wusste sie nicht.

Und sie fragte nicht. Instinktiv spürte sie, das ihre Mutter darüber nicht reden mochte. Anna wollte nichts tun, was ihre Mutter kränken oder verärgern könnte, deshalb fragte sie nicht.

Aber das Leben gab ihr bald die Antwort. Sie begriff, dass ihre Eltern geschieden waren.

Aber lange Zeit vermisste sie den Vater nicht, sie hatte ihre Mutter und ihre Geschwister. Einen Vater brauchte sie damals nicht, weil sie sich nicht an ihn erinnern konnte. Sie wusste nicht, wie es sein könnte, einen Vater zu haben.

Dann passierte etwas, das sie sich lange Zeit nicht erklären konnte. Zwei ihrer Schwestern wurden des öfteren vom Vater abgeholt. Er hatte ein Auto und machte mit ihnen Ausflüge. Anna blieb daheim. Sie wurde nicht mitgenommen. Man sagte ihr auch nicht, warum sie daheim bleiben musste. Sie dachte sich: "Beim nächsten mal nimmt er sicher mich mit".

Aber niemals nahm er Anna mit, immer nur abwechselnd die beiden Schwestern. Dann dachte Anna sich: "Vielleicht bin ich zu klein, wenn ich größer bin, nimmt er mich sicher mit".

Irgendwann begriff sie, dass er sie niemals auf einen Ausflug mitnehmen würde. Warum, das wagte sie nicht zu fragen.

"Warum magst du mich nicht?" diese Frage stellte sie ihm nicht, sie stellte sie auch nicht ihrer Mutter, sie stellte sie immer nur sich selbst.

"Warum liebt er mich nicht ?"

Das Gefühl, nicht liebenswert zu sein breitete sich immer mehr und mehr in ihr aus.

Für sich hatte sie viele Antworten auf diese Frage. Sie dachte eine zeitlang, es läge an ihren feuerroten Haaren, ihre Schwestern waren blond und braunhaarig.

Erst Jahrzehnte später sollte sie eine Antwort auf diese Frage bekommen, die sie nie jemandem gestellt hatte.