5. Kapitel

 

Großvater

 

„Großvater, brauchst Du etwas?“

Nie hätte Anna sich träumen lassen, diesen Satz so oft auszusprechen wie sie es die nächsten fünf Jahre tat.

Sie war gerade 13 Jahre alt geworden, als Mutter sie mit den Worten „es ist etwas passiert“ rief.

Mit diesen Worten war auf einmal alles anders. Keine Ferien mehr bei ihrer geliebten Schwester in Wien, kein unbeschwertes herumstreifen im Sommer mit ihrer Freundin, wo die Zeit vergessen werden konnte. Auf einmal gab es Pflichten und bestimmte Abläufe, die eingehalten werden mussten.

Annas Mutter sagte zu ihr: " Anna, mein Vater ist im Krankenhaus, es geht ihm nicht gut." Anna erschrak und sagte nur:

" Wird er sterben?"  "Das  wohl nicht, aber er ist ein Pflegefall." 

Anna konnte sich unter diesem Wort nichts vorstellen, sie kannte bis zu diesem Tag keinen Pflegefall.

Annas Großeltern waren Bauern, die sie nur von seltenen Besuchen auf deren Bauernhof kannte. Sie waren nicht gut auf Mutter und die Enkelkinder zu sprechen, hatten nie verziehen, dass Annas Mutter als junges Mädchen einen Mann aus der Stadt geheiratet hatte. Ins fünf Kilometer entferne Dorf kam Anna nur, wenn Mutter sie und ihre Geschwister beauftragte, die Großeltern um Eier oder Erdäpfel zu bitten. Annas Familie war nicht reich. Mutters erster Mann kam aus dem Krieg nicht heim, der zweite hatte sie verlassen. Es war für Anna immer ein schwerer Gang zu den Großeltern, sie kam sich wie eine Bettlerin vor. "Wos wollt´s ihr scho wieder? " Mit diesen Worten wurden sie von der Großmutter immer begrüßt.  Anna hielt sich meist im Hintergrund und überließ ihrer älteren Schwester das reden. Die Großmutter machte auf Anna meist einen mürrischen Eindruck. Die Kinder bekamen zwar ein Schmalzbrot und Milch von ihr, aber instinktiv spürten sie, dass diese Gaben nicht von Herzen kamen.

Der Großvater, ein schweigsamer Mann, war selten zu sehen. Meist war er auf dem Feld oder im Stall. Anna hatte immer ein mulmiges Gefühl wenn sie ihn sah. Er hatte nur ein Auge, was Anna ein wenig erschreckte.

Mit 87 Jahren war nun dieser alte Mann plötzlich ein Pflegefall geworden, es blieben nur zwei Möglichkeiten, ins Pflegeheim oder in häusliche Pflege.

„Anna Du musst mir helfen“ sagte ihre Mutter zu ihr. " Ich möchte meinen Vater nicht in ein Pflegeheim geben, wir holen ihn zu uns, und meine Mutter auch."

Annas Mutter arbeitete damals in der Fabrik, im Schichtbetrieb. „Ich werde ab nun immer die Spätschicht arbeiten, von mittags bis abends um 10 Uhr, damit ich mich vormittags um die Eltern kümmern kann. Wenn du von der Schule heimkommst, musst du das übernehmen. Ich werde dir alles genau erklären was zu tun ist.“

Anna war wie betäubt. Sie wusste nicht, was da auf sie zukommen würde, doch sie ahnte, dass es schwer sein würde.

Wie schwer, das allerdings ahnte sie damals noch nicht.

Sie wollte ihrer Mutter helfen, eine Weigerung kam ihr nicht einmal in den Sinn. Was ihr jedoch in den Sinn kam, waren Gedanken, für die sie sich sofort schämte, kaum hatten sie sich einen Weg in ihr Bewusstsein gebahnt.

"Vielleicht stirbt er ja doch" dachte sie....  Aber er starb erst 5 Jahre später. 

Annas Mutter holte ihn also nach Hause in die Wohnung. Es wurde das Kinderschlafzimmer zum Zimmer der Großeltern, die man nicht trennen wollte. Und so geschah es, dass Beide nun in Annas Familie aufgenommen wurden. In der Stadt, die die Beiden eigentlich nicht mochten.

Zu Hause waren außer Anna nur mehr ihr kleiner Bruder und eine ältere Schwester, die aber auch schon berufstätig war.

Wie also sollte das bewerkstelligt werden?  Die Pflege des alten Mannes, die Versorgung beider Großeltern?

Der Tag, an dem Großvater aus dem Krankenhaus zu ihnen kam, war für Anna der Beginn der Pflichten einer Erwachsenen und das Ende einer unbeschwerten Kindheit.

Wenn sie von der Schule heimkam war ihr erster Weg ins Zimmer zu den Großeltern. Großmutter saß meist im Ohrensessel und schaute Anna mit traurigen Augen an. Großvater lag im Bett und Anna wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihre Mutter hatte ihr eingeschärft, immer zu fragen wie es ihnen geht und ob sie etwas brauchen. Eine Antwort bekam sie selten. Überhaupt sprachen die Beiden sehr wenig, und fast nie mit Anna. Dieser Zustand machte es noch schwerer für Anna. So sehr sie sich bemühte, sie kam den Großeltern einfach nicht näher. So erledigte sie die ihr aufgetragenen Pflichten fast immer schweigend. Am Nachmittag ging sie einkaufen, aber länger als eine Stunde sollte sie die Beiden nicht alleine lassen. Wenn sie heimkam, ging sie wieder nachschauen ob alles in Ordnung war. Sie richtete ihnen das Abendessen, stellte es für Großmutter auf das Tischchen neben ihrem Sessel, für Großvater auf einer Vorrichtung an sein Bett. Sie fragte immer ob es schmeckt und ob sie genug hatten. Großmutter aß nicht viel, Großvaters Appetit war besser. Nach dem Abendessen begann der für Anna unangenehmste Teil der Pflege. Sie musste Großvater auf der Toilette helfen, ihn waschen und seinen Körper eincremen. Das sei wichtig hatte ihre Mutter ihr eingeschärft, damit er sich nicht wundliege! Danach musste sie ihm die Beine massieren, Großmutter sah schweigend zu. Anna tat die alte Frau leid, denn instinktiv spürte sie, dass sie sehr traurig war. Sie konnte sich noch selber waschen und war körperlich noch mobil.

Eines Abends, als Anna mit Großvater fertig war und auch Großmutter im Bett lag, ging Anna zu ihr und hob die Bettdecke bei ihren Beinen hoch. Großmutter sah sie verwundert und fragend an. „Wos mochst do?“ sagte sie sie mit strenger Stimme.

„Ähh…ich wollte, ich dachte..“ stotterte Anna . „Ich wollte Dir auch die Beine massieren“ brachte sie schließlich heraus. Schweigend ließ Großmutter es geschehen. „Des woa guid“ sagte sie, als Anna fertig war, und zum ersten mal hatte Anna das Gefühl, die Großmutter ein wenig erfreut zu haben.

Es hatt sich etwas verändert. Großmutter freute sich auf einmal, wenn Anna von der Schule heimkam und das Zimmer betrat. „Dirndl, kim her“ sagte sie oft und drückte Annas Hand. Anna saß nun am Nachmittag öfter bei den Beiden und sie redeten miteinander. So verging das erste halbe Jahr mit den Großeltern. Plötzlich starb Großmutter, ohne davor krank gewesen zu sein. Anna konnte es nicht fassen. Endlich hatte sie die alte Frau liebgewonnen und nun war sie tot. Es war sehr schwer für Großvater, konnte er ja nicht einmal auf die Beerdigung gehen.

Nun waren Anna und der Großvater an den Nachmittagen und Abenden alleine.  Annas kleiner Bruder betrat selten das Zimmer, er spielte lieber. Anna wollte auch lieber spielen, mit ihrem Bruder herumalbern, aber dafür war keine Zeit.

Sie vermissten die Großmutter und Großvater erzählte Anna manches mal wie es war, als Großmutter noch jung war.

Aber noch viel mehr erzählte er vom Krieg. Von Soldaten, von Russland und von der Gefangenschaft und von der Heimkehr.

Anna musste zuhören, obwohl sie nichts darüber wissen wollte, sie wollte nichts vom Krieg hören, der in ihrer eigenen Welt doch so weit weg war......das dachte sie damals.

Es wurde zur Gewohnheit, dass Anna dem Großvater für ein paar Stunden aus dem Bett half und ihn in den alten Ohrensessel setzte, den sie ins Wohnzimmer gestellt hatte. Dort konnte er ein wenig fernsehen, was für den alten Mann durchaus etwas besonderes war, denn auf dem Bauernhof hatten sie kein Fernsehgerät. Auch in Annas Familie gab es erst kurze Zeit so ein Gerät, sie bekamen es von den „Wienern.“  Eines Tages brachte ihre Schwester aus Wien den Fernseher mit, die Freude war groß.

Auch das Abendessen servierte Anna nun im Wohnzimmer.  „Hat es geschmeckt und hast Du genug, Großvater?“  fragte Anna jeden Tag.  „Guid und gmui“ war die Antwort, was „gut und genug“ heißt.